Neue Normalitäten-Serie: Mit Amt, aber ohne Plan

Mit meinem Amtsbeginn als sehr junger Bürgermeister in der schönen ehemaligen Reichsstadt Isny im Allgäu war im Herbst 1985 die Übernahme eines Bündels von Unterlagen verbunden. Mit großen Lettern stand auf dem Ordner „VS-NfD“. Diese in einem uralten Tresor verschlossenen Unterlagen enthielten den sog.  Alarmkalender, mehrere Adresslisten, Land-Karten, Stadtpläne, Listen von Gerät und zuletzt verschlossene Hinweise auf die im Keller des Rathauses eingelagerten Lebensmittelmarken. Ein Mitarbeiter war für die laufende Aktualisierung der Informationen zuständig. Ich war sehr überrascht über diese Unterlagen, darüber hatte ich mir nie Gedanken gemacht. Und doch war es ein normaler Vorgang in deutschen Rathäusern in den Tagen des kalten Krieges.

Die Katastrophe von Tschernobyl kam wenige Monate später und die ganzen Informationen taugten nicht viel. Dafür, was nun zu tun war, hatten wir keinen Plan. Weder gab es in den Akten im Rathaus irgendeine Instruktion für dies Situation, noch gab es in meiner eigenen Vorstellungswelt Maßstäbe für die erforderlichen Schritte, auch wenn diese von meiner militärischen Ausbildung und der späteren Aufgabe als Verbindungsoffizier zwischen der Bundeswehr und den zivilen Behörden geprägt waren.

Nun liest man in den Tagen der Corona-Krise, dass achtzig Prozent der deutschen Rathäuser keinen Plan für die Bekämpfung der Krise vorliegen haben. Die Empörung über ein angebliches massenhaftes Versäumnis klingt durch die Kommentare. Wie steht es mit der Vorbereitung auf Krisen, was wäre jetzt zu tun?

Das „bekannte Unbekannte“ kann und muss man vorbereiten. Die Einschätzung von konkreten Risiken steht dafür an erster Stelle, sie sind das Bekannte. Die Frage nach dem Zeitpunkt, der Dimension und der Dauer einer Gefährdungslage ist stets das Unbekannte. Welche Szenarien sollen in den Rathäusern vorbereitet werden, was ist angesichts unserer geopolitischen und geografischen Lage, was ist angesichts der Umweltbedingungen und der derzeit eingesetzten Technologien ein hinreichend wahrscheinliches Risiko-Szenario? 

Darüber muss nicht nur ständig gesellschaftlich und politisch diskutiert werden, es bedarf auch einer permanent aktualisierten Risikoeinschätzung durch die Verantwortlichen auf der Grundlage eigener Erkenntnisse und von Informationen Dritter. 

Ob dies in den Rathäusern und darüber hinaus angemessen geschieht, ist eine Diskussion wert. Ich erinnere mich lebhaft an den Abbau genau der Stellen in den Rathäusern, die sich bis zur Zeitenwende der deutschen Wiedervereinigung mit Zivilschutz und Alarmkalendern beschäftigt haben. Dass dies ein voreiliger Schritt war, zeigte sich zum Beispiel bei den großen Sturmereignissen mit den klingenden Namen Vivian, Wiebke, Lothar und Kyrill.

Das „unbekannte Unbekannte“ kann man nicht vorbereiten. Ein Blick in die Glaskugel kann erheitern, doch wirklich hilfreich ist er so wenig wie die Beschäftigung mit Verschwörungstheorien, Science-Fiction-Romanen oder technischen Utopien. Das unbekannte Unbekannte bleibt unserer Vorhersage entzogen, auch wenn wir uns noch so anstrengen. Aber man kann sich selbst vorbereiten, als Führungskraft und als Organisation. 

Die Entwicklung von Resilienz ist das passende Maß für diese Vorbereitung. 

Bei den Verantwortlichen benötigt es einer persönliche Entwicklung für die eigenen Resilienz-Kompetenzen, zu denen als unersetzliche Grundlage eine besondere Haltung und Verantwortungsbereitschaft gehört. Das dies auch ganz persönliche Aufgaben beinhaltet, war für mich schnell erkennbar. Die Veranstaltungsserie „Die Verantwortung des Bürgermeisters in Großschadensfällen“ zielte deshalb zuerst auf ganz basale Kompetenzen bei der Bewältigung einer Führungsaufgabe in schwierigen Zeiten, beginnend bei der persönlichen Ausstattung und noch lange nicht endend bei der Frage, welche Rolle die eigene Familie in einer solchen Situation spielt. Eine große Zahl von baden-württembergischen Bürgermeistern interessierte sich dafür und lernte dazu.

Was aber muss eine Organisation entwickeln, um resilient zu werden für neue Herausforderungen? Wen muss sie dabei zugleich in die Aufgabe mit einbeziehen, wer ist geborener und gekorener Partner eines solchen Entwicklungs- und Anpassungsprozesses?

Sind die derzeit erkennbaren Zentralisierungstendenzen zur Bewältigung der Corona-Krise der richtige Weg oder sind dezentrale Strukturen besser geeignet. Wie gestaltet man ein „Ökosystem Resilienz“ in einer Kommune? Welche Verantwortungspartnerschaften zwischen Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft und internationalen Partnern zur gemeinsamen Bewältigung einer Krise sind jetzt zu schmieden und wie sichert man sie ab? 

Ein einfaches „Zurück zur Normalität“ vor der Krise ist sicher kein kluger Weg. 

Diskutieren Sie mit uns heute über eine Alternative mit dem Fokus auf die Resilienz von Organisationen.

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